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Der Tobsuchtsanfall an sich

Der Tobsuchtsanfall an sich

Die Trotzphase ist etwas, das jeder kennt. Dafür muss man nicht Eltern sein. Feldstudien in Supermärkten, auf Spielplätzen oder in Fastfood-Restaurants sind anschaulich genug. Was es aber bedeutet, so einem Wutzwerg (wie man diese menschgewordene Götterdämmerung verniedlichend nennt) Tag für Nacht ausgeliefert zu sein, muss man am eigenen Leib erfahren. Es ist ein bisschen, als würde man mit baumelnden Beinen am Kraterrand eines Vulkans sitzen und in die friedlich blubbernde Lava starren –  in dem naiv-fälschlichen Glauben, dass etwas, das so hübsch aussieht, doch unmöglich so schnell in die Luft gehen kann.

Es kann! Die Ursachen sind ebenso vielfältig, wie marginal. Man sitzt zum Beispiel an einem wunderschönen Frühlingstag auf einer Wiese in den Rheinauen und das Kind verliert plötzlich seinen Grashalm. Nun ist es ja nicht, so, dass man auf 110 Hektar Rasenfläche nicht einen zweiten finden könnte. Im Gegenteil hat man sogar die nicht unerhebliche Auswahl unter 27 Mrd Halmen (es ist ein sehr dichter Rasen). Aber finde mal den einen, den persönlichen, den besonderen Grashalm deines Kindes dort wieder BEVOR es merkt, dass es aussichtslos ist.

Denn wenn es das merkt, presst die Druckwelle seines Geschreis alles Grün auf die Erde, lassen die Bäume freiwillig ihre Blätter fallen und entwickelt der Tretbötchen-Teich eine Tsunamiwelle, von der die Angestellten im 40. Stock des Posttowers auch noch was haben. „ICH! WILL! MEINEN! HAAAAAALM!!!!!!!“ „Wie heißt das Zauberwort?“ „JEEEEEEETZT!!!!!“ Nein, dieser Dialog ist natürlich Quatsch. Als könnte man mit einer Zweijährigen in diesem Stadium überhaupt noch eine Art von Konversation betreiben. Völlig aussichtlos!

Als Eltern hat man in solchen Situationen mehrere Möglichkeiten. Befindet man sich gerade in den eigenen vier Wänden, werden erst einmal die Fenster geschlossen. Dann entfernt man sich von der Gefahrenquelle. Immerhin: Ab 85 Dezibel kann das Innenohr schon Schaden nehmen. Hier sprechen wir aber eher von 130. Also Düsenjäger aus 30 Meter Entfernung, inklusive Schallmauerdurchbruch. Nicht immer kann man sich von der Gefahrenquelle entfernen. Etwa, wenn die Gefahrenquelle sich nicht entfernen lässt – vom Bein an das sie sich klammert. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass sich handelsübliche Schallschützer für die Ohren in diesen Momenten immer außer Reichweite befinden.

Hat man es doch geschafft, das Zimmer zu verlassen, die Tür hinter sich geschlossen und sich schwer atmend dagegen gelehnt, kann man unterschiedliche Anrufe tätigen. @Ehemann: „Komm sofort nach Hause. DEINE Tochter flippt mal wieder aus!“ @Oma: „Hättest du Zeit zum Babysitten? Wann?! JETZT!!!“ @Nachbarin: „Du hast doch letztens von diesen Rescue-Tropfen erzählt. Kannst du die rüberbringen?“ Wenn keiner da ist bzw. sie deine Nummer im Display gesehen haben und deshalb auch beim achten Klingeln nicht abheben, bleibt noch die Adoptionsvermittlung.

Sich dem Wutzwerg entgegenzustellen versucht man ein oder zwei Mal und ist dann eines Besseren belehrt. Dauer und Intensität des Tobsuchtsanfalls verhalten sich proportional zum erfahrenen Gegendruck. Bleibt eigentlich nur eins: Diese Situationen so gut es geht zu vermeiden. So gestaltet sich der Alltag mit einem Kind in der Trotzphase wie ein 100-Meter-Lauf über rohe Eier. Wenn die Stimmung langsam zu kippen droht, bieten wir unserer Tochter zunächst ein erprobtes Gegenmittel an, das man aber früh genug einsetzen muss: Kakao.

Dazu gehört die folgende Zeremonie: Man nehme ein Glas und fülle es zur Hälfte mit Milch… „MEHR!“ …fülle es zu drei Vierteln mit Milch. Man hebe das Kind alsdann auf die Arbeitsplatte, damit es das Pulver „SELBST!“ aus dem Schrank nehmen kann. Klemme sich das Kind unter den Arm, entnehme DEN EINEN BESTIMMTEN Löffel der Besteckschublade und platziere Pulver auf dem Tisch, Kind am Tisch und den Löffel in seiner Hand.

Man entnehme die angewärmte Milch der Mikrowelle und führe vorsichtig die Hand des Kindes beim Einfüllen des Kakaopulvers… „ALLEINE!“ …äh, führe NICHT die Hand, sondern besorge Besen und Kehrblech. Man lasse das Kind umrühren und animiere zum Probieren… „Warm machen!“ – „Aber es war schon in der Mikro…“ – „WARM MACHEN!!“ „Ja, entschuldige, schon gut!“ Wärme den Kakao noch einmal auf, reiche einen rosa Strohhalm und überlasse das Kind der Sauerei, die es im Folgenden anrichtet. Man freue sich abschließend über den robusten PVC-Boden in der Küche.

Mit etwas Glück schaffst du damit eine Stimmung, die den nächsten Anfall in zweistündige Ferne rücken lässt. Am Ende sinkt  man ermattet aufs Sofa, pustet die Haare aus der verschwitzen Stirn und harrt still und unerschütterlich der nächsten Dinge, die da kommen.

Da blog‘ ich doch lieber!!

Da blog‘ ich doch lieber!!

Die Kunde von meinem Blog ist mittlerweile bis Bayern vorgedrungen 🙂 Bekam ich doch am Wochenende die etwas entgeisterte Mail einer ehemaligen Mitvolontärin und zweifachen Mutter: „Wann hast du denn dafür noch Zeit???“ Da die Frage angesichts meiner Entschleunigungsvorhaben dieses Jahr nicht ganz unberechtigt ist, habe ich mir mal wieder ein paar Gedanken dazu gemacht. Die Antwort lautet: „Ich habe dafür keine Zeit!“

Zum Beispiel heute: Nachdem Töchterlein die ganze Nacht derartig rumgeturnt ist, dass die Windel sich von allen Versprechungen losgesagt hat und ich sie komplett umziehen musste, hatte sie heute morgen wenigstens den Anstand erst nach sechs Uhr aufzuwachen. Das Anziehen war in dreißig Minuten über die Bühne, was kein Rekord, aber auch nicht schlecht ist. Sie hat sich ihre Hose nur einmal wieder vom Leib gerissen und auch das Kleidchen durfte bleiben. Ein Marmeladenbrot, dreimal „Michel, das glücklose Schaf“ und einmal „Der Klokönig“ später, Kind mit dem Vater in die Kita entsandt. Nicht ohne den täglichen Versuchsballon „Ich will aber nicht in den Kindergarten!“ an mir abprallen zu lassen. Ja, man wird hart…

In den zehn Minuten bis Ehemann wieder auftauchte ausgehfertig gemacht, außerdem spontan das Expedit-Regal im Kinderzimmer abgeschraubt und ins Gästezimmer am anderen Ende der Wohnung geschleift. Das hatte mich da immer schon genervt. Augenrollen des Ehemannes, der wieder zur Tür reinkam, ignoriert. Selbigen zur Arbeit gebracht. Dann Aldi, Obi, Post (nee, Mist, Paket vergessen) dm, Bäcker und Rewe. Einen Artikel schreiben, einen für die Nachbarin ausdrucken, das Kinderzimmer weiter ins Gästezimmer räumen und umgekehrt, waschen, aufräumen, kochen, zur Post (Grrrr!). Kind von der Kita abholen. Ach so, bloggen – zwischen Rewe und Artikel schreiben.

Wer will sich denn schon langweilen in den freien fünf Minuten zwischen sechs und halb drei? Ich nicht! Denn dann passieren wieder diese Gedankengänge wie heute morgen. Für mich ein klares Zeichen: „Die Frau – also ich – hat doch zu viel Zeit!“ Ich also bei Obi an der Kasse. Vor mir ein gebeugtes Mütterchen. Kauft eine Palette Frühblüher und drei Sack Gartenerde. Die freundliche Kassiererin (nein, nicht Wodka-Born, die ist ja bei Rewe) telefoniert dem Praktikanten hinterher, er möge der Dame doch beim Einladen helfen. Voraufhin Omilein die Beine in die Hand nimmt und mit einem Affenzahn – hätte ich ihr gar nicht mehr gegeben – aus dem Laden stürzt. Fast wäre sie volle Kanne mit dem Einkaufswagen in ihren 1990er Mercedes reingerauscht.

Und jetzt mein Gedankengang dazu: „Wieso ist die jetzt so schnell abgehauen? Die hätte sich doch locker mal von Hamed helfen lassen können? Vielleicht wenns ein Peter gewesen wäre und kein Hamed??? Oder es war ihr peinlich, weil sie sich gar nicht so alt fühlt, wie sie aussieht… Hm, damit hätte sie mir was voraus…“ – „Nein, ich weiß! Sie hat gestern Abend Opi um die Ecke gebracht und in den Kofferraum verfrachtet. Die Blümchen sind nur Tarnung und die drei Sack Blumenerde zum Verscharren!!“ Fall gelöst! Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, wo „Leicht-zu-Begeistern“ immer noch einsam rumsitzt und mit den Beinen baumelt.

Damit es nicht schlimmer wird – es gibt ja soviel, über das ich sonst nachdenken müsste: Krimkrise – droht der dritte Weltkrieg? Fleisch wird noch billiger – wir sollten doch komplett auf bio umsteigen! Am Mittwoch Termin beim Kinderorthopäden in der Uniklinik – unser Kind ist schief, sagt die Kita… Übrigens auch ihre Zähne, wie gewöhnen wir nur den Schnulli ab? Die nächste Erkältung hat schon den Fuß in der Tür, hoffentlich können wir überhaupt zum Kinderorthopäden, Zahnarzt, HNO…“ Kreisel, kreisel, kreisel… Oh Mann! Da blog‘ ich doch lieber!!

Schniff!

Schniff!

Ich weiß, es gibt viel Schlimmeres, aber man ist ja doch damit beschäftigt. So als junge Familie. Im Winter. Mit einem Kindergartenkind… Die Rede ist vom Viren- und Bakterienbefall der hartnäckigen und wiederkehrenden Art. Erst das Kind, dann der Vater, dann die Mutter, dann das Kind, das andere Kind und  der Vater eigentlich immer noch. Dann wieder die Mutter, die Oma, die andere Oma, der Opa, der Wellensittich, die Nachbarn… Irgendwie alles und jeder, der sich länger als fünf Minuten im Rotz-, Schnief-, Schmier- und Schleimkreis des Kindergartenkindes aufhält. Erzieher sollten allein deshalb im Winter eine Gefahrenzulage erhalten.

Im mütterlichen Bekanntenkreis kommunizieren wir übrigens nur noch in Kürzeln. MD steht für Magen-Darm, MD24 für „letzte Kotzattacke einen Tag her“. B – Bronchitis, HgA – Husten mit grünem Auswurf. S wird extra rot geschrieben und steht für Scharlach (ihr wisst schon, „Der scharlachrote Buchstabe“ – man wird ja kreativ). Sng – „bei uns im Kindergarten ist Scharlach ausgebrochen, noch geht es uns gut“. Das Treffen absagen sollte man spätestens bei HHA-rswk: „Himbeerzunge, Halsweh und Ausschlag – rette sich wer kann“. Aber dann ist es  meistens schon zu spät. Denn das ist ja das Tückische: Ansteckend ist der Kram, wenn das Kind noch oder schon wieder mopsfidel durchs Veedel tanzt.

Also schleppt man sich von November bis März so durch. Sagt Termine ab, vertagt lang anberaumte Verabredungen: Duisburger Zoo mit Freunden vom Niederrhein. Per Whatsapp: „Wir hätten langwierige Erkältung mit Bindehautentzündung im Angebot und ihr?“ –  „MD!!“ – „Okay, ihr habt gewonnen!“ Und wir bleiben daheim. Am liebsten immer, die ganzen Wintermonate hindurch. Essen kaufen wir in Dosen oder eingeschweißt Ende Oktober. Dann schließen wir uns ein, melden das Kind von der Kita ab, nehmen unbezahlten Urlaub und halten Winterschlaf, bevor wir ausgeruht und fit zur Ostersaison wieder auftauchen… Hach!

Stattdessen versucht man seinen mehr oder weniger familienerfahrenen und-affinen Vorgesetzten zu erklären, warum man schon wieder nicht da ist. Und man neigt dazu, das Kind (zu) früh wieder in die Kita zu schicken. Damit man selbst auch mal wieder ins Büro kann, so zwischen MD24 und HgA. Dass das Kind dann in der Kita die anderen ansteckt… Ach, die sind ja auch alle krank. Virus bleibt Virus. Befeuert wird dieser schöne Kreislauf durch die Schnittmengen, die sich in der Spielegruppe, in der Musikgruppe, beim Kinderturnen oder eben im Hausflur bilden. Dort, wo Kind auf anderes Kind trifft, mit anderem Kita-Bazillenhintergrund. Ein Freudenfest für die Viecher. Wenigstens gibt es gegen das ganz fiese Zeug (Masern und Co.) jetzt nette Impfungen. Das haben wir ja noch alles fein durchgemacht, so in den 80ern.

Meine Eltern haben sich irgendwie nie angesteckt. Ebenso wie meine Kollegin, die jetzt in Rente geht und vier Kinder durch diverse Winter gebracht hat. „Also ich war nie krank. Mütter stecken sich ja nicht an.“ Ach so, ist leider bei meinem Immunsystem noch nicht angekommen. Bin ich zu alt? Zu gestresst? Zu verweichlicht? Mit letzterem bin ich zumindest nicht alleine. „Komm Tochter, wir gehen raus an die frische Luft. Und machen dabei einen großen Bogen um andere Kinder.“ – „Och nöööö, da ist eine Wolke am Himmel!“ Da, wo unsere Generation noch beim Budenbauen im Regen abgehärtet ist, muss man heute schon in eigens angelegte Himalaya-Salz-Grotten gehen, um die Atemwege auf Vordermann zu bringen. Das machen vor allem Eltern mit erkälteten Kindern. Und die Kinder treffen sich dann in der Spieleecke der Grotte. Und tauschen sich aus… Was den positiven Effekt dann doch wieder etwas eindämmt. Mist! Ich geh jetzt inhalieren.

Mein Dorf

Mein Dorf

Worüber könnte ich heute schreiben? Hmm, zum Beispiel über unsere Bettgewohnheiten. Keine Sorge, da ist überhaupt nichts Anrüchiges dabei. Leider! Ich sag immer, unsere Tochter wechselt in 14 Jahren nahtlos aus dem Elternbett ins Bett ihres ersten Freundes. Mein Mann schüttelt sich dann immer. Aber ist doch wahr…

Ich könnte auch über die jüngsten Entwicklungen an der Viren- und Bazillenfront schreiben. Diesmal sMOEmhHuF40+ (schwere Mittelohrentzündung mit heftigem Husten und Fieber über 40), geht langsam in Erkältung über. Vielleicht hat sich Töchterlein auch wieder neu bei mir angesteckt. Aber mit der Zeit langweilt mich das Thema selbst.

Was war noch? Ach ja, ich lese ein Buch. Das ist an sich nichts Besonderes. Seit ich im April mein Kindle bekommen habe, sind es schon über 80. Darunter auch zwei, drei Gute. Keine Angst, es kommt keine Rezension. Aber dieses Buch hat meine Friede-Freude-Eierkuchen-Nachbarschafts-Sehnsüchte aufgegriffen.

Ihr wisst schon: Spontane, ehrliche Beziehungen ohne Management. Ad hoc Grillabende mit einer lachenden Meute unterm Apfelbaum. (Eigentlich war es eine Trauerbirke, aber was bitte ist eine Trauerbirke…) Frische Muffins von der Nachbarin zur Linken, handwerkliche Unterstützung vom Nachbarn zur Rechten. Okay, es ist ein Märchen und wäre mir in der Realität sowieso zu viel.

Aber trotzdem: Der Blog heißt nicht umsonst „Die Nachbarin“ und deshalb ist es Zeit für eine kleine Liebeserklärung an mein eigenes Dorf. Dass es überhaupt „mein Dorf“ ist, will schon was heißen, denn wir wohnen erst zwei Jahre hier.

Nur wenige Kilometer vor der Stadt, ist es irgendwie offener. Hier trifft man fast so viele Auswärtige, wie auf der Domplatte. Die Menschen sind eine Mischung aus rheinisch fröhlich, rheinisch gelassen, rheinisch grummelig und rheinisch klüngelig und können einen damit auch mal in den Wahnsinn treiben: „Kommste heut nit, kommste morgen ooch nit…“

Es gibt ein Ober- und ein Unterdorf, welche sich naturgemäß nicht grün sind. Oben die Weinbauern, unten die Fischer. Villarriba und Villabajo – ohne Paella, dafür mit Sauerbraten. Es gibt Bäckereien, Supermärkte mit Fleischtheken, Schneider … Schreinereien, Ärzte und – wenn die nicht mehr helfen – Bestatter. Für alles andere ist Amazon zuständig.

Und – man kennt alle persönlich irgendwann. Also, im meinem Fall, wenn sie hinter ihrer Theke stehen und oder ihre Berufsbekleidung tragen, ansonsten wirds schwierig. Nur an Kassiererin Frau Born werde ich mich jetzt immer erinnern und ab und an einen Schnaps bei ihr kaufen, wenn ich mal wieder was fürs Ego brauche.

Gestern war ich mit meiner Tochter unterwegs. Noch nicht fit für den Kindergarten, aber für die Sonne schon. Also raus, ein „Guten Morgen“ an Hofkatze Schoki, die niemandem gehört und auf der Heizung im Keller wohnt. Die monatlichen zehn Euro aufs Kindersparbuch eingezahlt, wie immer nettes Schwätzchen mit der Kassiererin gehalten.

In den Bus gestiegen, um zum Kinder-Second-Hand in den Nachbarort am Hang zu fahren. Meine Tochter mal ganz zahm und lieb, diskutierte mit mir die Farben der vorbeifahrenden Autos. Da drehte sich der Busfahrer um und schenkte ihr eine Kette mit einer kleinen roten Möwe dran. Ha, der wusste, dass wir zu den Fischern gehören. Ahoi!

Im Kinder-Second-Hand drei Teile erstanden. Die rote Jacke mit den Pferden drauf musste gleich anbleiben. Und dann eine Viertelstunde die Zeit angehalten, mit einer Frau über 90, die schon im Bus gesessen hatte, und uns nun zwischen den Kleiderständern ihre Lebensgeschichte erzählte:

Von Wien ins Rheinland, als Krankenschwester, in Zeiten, als Ärzte noch brutale Ohrfeigen an Kinder verteilten und Kinderstationen mit Elternzimmern jenseits von Eden schienen. Ihre Traurigkeit ausgehalten und wieder was gelernt: „Legen Sie das Kettchen vom Busfahrer in eine Schachtel. Solche Geschichten muss man gut aufbewahren.“

Zum Schluss noch eine Runde durch den Park, Gänse gejagt, Gänseblümchen gepflückt, um einen Springbrunnen herumbalanciert, Steine ins Wasser geschmissen… „Da hattet ihr ja einen schönen Mutter-Tochter-Tag im Dorf“, sprach dann abends der Papa, und es klang ein bisschen neidisch. Zu Recht! So ganz weit weg vom Kindle-Buch ist unser Veedel ja doch nicht.

Ein echtes Mädchen

Ein echtes Mädchen

„Deine Tochter ist ein echtes Mädchen“, spricht der Gatte und es klingt ein bisschen verzweifelt ob der schieren Klamottenflut, die ihn gerade mal wieder zu überwältigen droht. Eine befreundete Erzieherin sagte mal zu uns: „Man kann morgens erkennen, wer das Kind angezogen hat.“ In der Tat hätte unsere Tochter ihren Weg in die Kita sicher auch schon mal im Schlafanzug zurückgelegt, hätte sie nicht ganz genaue Vorstellungen davon, was man anziehen kann oder nicht.

Die Inventur ihres Kleiderschranks ergibt das Folgende: 15 Oberteile langarm, 9 T-Shirts, 12 Hosen (davon zieht sie drei an und zwar nur unter tränenreichem Protest) und 12 Kleider. Die zieht sie alle an. Manchmal auch zwei übereinander. Während andere Kinder ihren Schnuffelhasen vermissen, der auch mal in die Wäsche muss, will sie genau DAS Kleid. Das Rosane! NICHT das mit den kleinen Punkten!!! Das mit den GROSSEN Punkten!!! Dabei ist es egal, dass man an der Vorderseite den Kitaspeiseplan der letzten Woche ablesen kann. Ohne dieses Kleid geht sie nicht aus dem Haus.

Jetzt könnte man denken, hier lebt eine Mittdreißigerin ihren nostalgischen Barbie-Spieltrieb an ihrem Kind aus. Ganz falsch! Ich konnte mit Barbies noch nie was anfangen. Die zwei oder drei, die ich in meinem Kleinmädchenleben geschenkt bekam, lagen irgendwo ohne Kopf in der Ecke, während ich knetete, mit dem Kaufladen spielte, Schnecken mit Salat fütterte oder irgendwo in der Nachbarschaft von einem Baum fiel. Auf rosarote Plastik-Wohnmobile/-Schlösser/-Kutschen reagierte ich legasthenisch. Mir wollte einfach nicht einfallen, wie man richtig damit spielt.

Auf Röcke und Kleidchen habe ich als Kind wohl auch nicht wirklich gestanden. Sie hätten beim munteren Rohbau-Erkunden in unserem Neubaugebiet gestört. Bis heute ist mein Klamottengeschmack wesentlich unausgereifter, als der meiner Tochter im Alter von 15 Monaten. Schon damals wusste sie genau, was geht. Am Überfluss ihrer Klamotten habe ich allerdings neben diversen Omas und anderen Anverwandten einen deutlichen Anteil. Ich liebe Kinderflomärkte und wühle mich bodycheckend durch Kleiderhaufen, als gäbe es kein Morgen mehr.

Hallo? Ich meine, wo gibt es denn sonst kaum getragene Teile für zwei Euro? Das kann man doch nicht liegen-, beziehungsweise anderen überlassen. So sehen das übrigens alle Mütter (Väter findet man auf solchen Veranstaltungen so gut wie gar nicht). Mit Tüten und Taschen bewaffnet stehen die Frauen schon eine halbe Stunde vor der Öffnung bereit, scharren mit den Sneakers und kratzen an der Tür. Wenn es dann endlich losgeht, erinnert das Ganze ein bisschen an den Sturm auf die Bastille, mit fast ebenso vielen Opfern. Wer Pech hat, wird in Richtung Spielzeugecke oder Kuchenbuffet abgedrängt und dann hat man schon verloren. Die ersten fünf Minuten sind schließlich entscheidend.

Und so kommt es, dass ich nach diesen Flohmarktbesuchen derangiert, aber glücklich mit locker 20 neuen Teilen nach Hause komme. Was davon in den Augen meiner Tochter Gnade findet, zeigt sich dann über die nächsten Wochen hinweg. Der Rest wird sorgfältig gebündelt in den Keller verfrachtet und wartet seinerseits auf den nächsten Flohmarkt. So langsam wird es da unten allerdings eng, was mich gerade an eine prägende Erfahrung vor eineinhalb Jahren erinnert:

Als ich damals noch relativ unerfahren über den großen Bonner Rheinauenmarkt schlenderte, kam ich an einem riesigen Stand vorbei. Acht Tapeziertische standen im Carré, darüber war eine Dachkonstruktion gleichen Ausmaßes errichtet, an denen Kleidchen, Jacken und andere ‚Bügelwäsche‘ hing. Unbedarft, wie ich war, fragte ich die Standbetreiber. „Kommen Sie von einem Kinderheim?“ Die sahen mich mit einem wissenden Seitenblick auf unseren Kinderwagen nur milde lächelnd an. „Nein! Das ist alles von unserer Tochter. Wieso?“ Ja, wieso eigentlich… Ich war einfach noch ein richtiges Greenhorn in Sachen Kinderbekleidung. Heute weiß ich es natürlich besser. Und mein armer Mann leider auch.