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Die doppelte Minderheit

Die doppelte Minderheit

Seid nett zu Minderheiten. Zu Sinti und Roma, zu Piratenpartei-Wählern, zu Männern – als Frauen – mit Bart. So weit, so unterschreibenswert. Aber was ist das eigentlich, eine Minderheit? Irgendwie immer die andern, oder? Aber sind wir nicht alle ein bisschen Minderheit, wenn wir nicht gerade auf der Waage stehen? Da bin ich in letzter Zeit irgendwie immer in der Mehrheit – gegenüber meinem Gewicht von letzter Woche.  Aber ansonsten…

Jeder von uns gehört doch irgendeiner Minderheit an. Bei mir muss man nicht lange suchen: Rote Locken! Genaue Zahlen gibt es nicht, aber etwa zwei Prozent der Echthaarträger in Deutschland sind rothaarig. Man muss kein Mathegenie sein, um festzustellen: Das sind nicht so viele. Eine andere Minderheit, zu der ich mich zähle, sind die Synästhetiker. Das ist keine Sekte, kein künstlerischer Berufszweig und auch keine Krankheit. Manchmal ist es nervig, manchmal ein Geschenk, in meinem Fall weder das eine noch das andere, kommt aber immer gut, wenn einem an der Bar mal der Gesprächsstoff ausgeht.

Bei Synästetikern sind zwei unterschiedliche Sinnesbereiche gekoppelt, die normalerweise nicht gemeinsam auftreten. Das heißt in der Praxis: Für den Synästhetiker kann Fisch nicht nur fischig, sondern auch stachelig schmecken.  Wirft er einen Stein ins Wasser, hört er die ringförmigen Wellen vielleicht summen oder knacken. Beobachtet er, wie sich zwei Menschen die Hand schütteln, fühlt er die Berührung am eigenen Körper. Das geht ja noch, einen Boxkampf sollte der sich aber lieber nicht anschauen. Ein berühmter Synästhetiker ist übrigens Kandinsky, der in seinen Bildern das verarbeitete, was er beim Hören klassischer Musik sah.

Unter den Synästhetikern, von denen es in Deutschland geschätzt 400.000 gibt, gehöre ich wiederum zur langweiligen Mehrheit, die vor allem Buchstaben, Zahlen und Wochentage farbig sieht. A ist gelb, e ist rot, 1 ist blau, 7 ist lila, der Dienstag rosarot, der Freitag weiß. Dabei sehe ich die Farben so, wie wenn man sich zum Beispiel die Farbe des eigenen Autos vorstellt. Also vor dem inneren Auge. Keine bunten Zeitungen und Buchseiten im klassischen Sinne. Auf meinen Alltag wirkt sich das nicht weiter aus. Eigentlich müsste ich mir Telefonnummern besser merken können als andere. Fehlanzeige. Dafür ist meine Kontonummer blau-grün-weiß-grün-rot-gelb-grün-braun-lila. Und meine Geheimzahl… äh, lassen wir das… 😉

Jetzt weiß ich natürlich nicht, wieviele rothaarige Synästhetiker es in Deutschland gibt, aber so viele werden es wohl nicht sein. Mein Mann ist keiner, akzeptiert aber, dass die Farben eines potentiellen Vornamens
fürs Kind mit denen des Nachnamens harmonieren sollten. A propos Vornamen: Mein Mann gehört wohl zur Minderheit der Menschen, die nach ihrem Geburtsort benannt worden sind. Gott sei Dank ist der weder
Castrop-Rauxel noch Uppsala – obwohl, letzterer hätte farblich gut zu seinem Nachnamen gepasst.

Outing: Unsere Schlafgewohnheiten

Outing: Unsere Schlafgewohnheiten

Saß ich jüngst in einem der klapprigen Nahverkehrsmittel, die im südlichen NRW Städte und Städtchen verbinden. Es war 18 Uhr, die Bahn voll und es roch nach einem langen Arbeitstag. Ein paar Reihen weiter hing eine Frau in ihrem Sitz: die Augen geschlossen, den Mund geöffnet. Ihr Kopf schwankte willenlos mal Richtung Fenster, mal Richtung Sitznachbar.

Erst machte ich mir Sorgen… Doch dann öffnete sie kurz die Augen und darin las ich. „Ich bin berufstätige Mutter von drei Kindern! Ja, und ich schlafe hier! Weil ich sonst nicht dazu komme! Und es ist mir sowas von egal, ob ich dabei dämlich aussehe. Wehe, es weckt mich jemand auf! Mit etwas Glück verpasse ich meine Haltestelle und fahre einfach immer weiter im Kreis…“

Kinder und Schlaf sind inkompatibel…

Dafür müssen die Kleinen noch nicht mal auf der Welt sein. In der Schwangerschaft fängt es an: Wadenkrämpfe lassen einen im vierten Monat rumpelstilzchenartig aus dem Bett hüpfen. Dann folgt die Blase, die zwar irgendwann leer ist, sich aber nie so anfühlt. Der Bauchschläfer hat ja schon früh verloren, der Rückenschläfer – also ich – spätestens, wenn er bei dem Versuch, in der geliebten Position einzuschlafen, in Ohnmacht fällt. Nach der Entbindung folgt „24/7/2-3“ (auch bekannt als zwei bis drei Stunden Taktung).

Jetzt kommt das alles nicht wirklich überraschend, hat man sich doch im Normalfall neun Monate lang ins Thema eingearbeitet. Dass so ein Erdenneuling nicht von Anfang an elf Stunden durchschläft, erwartet auch niemand. Dass das Thema „Schlafmangel“ aber auch drei Jahre später noch akut sein könnte, hat uns keiner gesagt!! Meine Familie hat sich in ein wanderndes Feldlager verwandelt, immer auf der Suche nach ungestörten Nächten.

Kürzlich ist mir aufgefallen, dass ich mich abends nur noch selten umziehe, sondern ermattet in Straßenklamotten irgendwo niedersinke. Ich dachte noch: „Das war doch früher nicht so…“, da fiel mein Blick auf ein vertrautes abendliches Bild: Mein Mann mit Bettdecke, Wolldecke, Kissen, Oropax und Kindle im Arm wankte verwirrt durch die Wohnung auf der Suche nach einem guten Schlafplatz für die Nacht. „Klar, dachte ich: Früher lag mein Schlafzeug immer am Fußende meines Bettes unter meiner Decke. A propos, wo ist überhaupt meine Decke? Wo habe ich letzte Nacht geschlafen?“ Kopfkratz!

Der beste Schlafplatz der Wohnung befindet sich egal wo, Hauptsache weit weg von unserer Tochter. Neben ihr zur Ruhe zu kommen ist, als würde man versuchen, im FC-Fanblock ein Nickerchen zu machen, wenn die Mannschaft gerade verliert… Da unsere Tochter allerdings nach wie vor Probleme mit „weit weg“ im Zusammenhang mit „schlafen“ hat, gibt es Nacht für Nacht eine Abstimmung darüber, wer bei ihr, soll heißen, in einer ruhelosen ringkampfartigen Umarmung mit dem Kinde schläft.

Ehebett??? 
Schon lange ist aus unserem Ehebett  ein Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Bett geworden. Dort schläft der, der nicht arbeiten muss, nicht krank ist, eine Wette verloren oder wie in meinem Fall, unerlaubt Schokolade gegessen hat. (Es gibt da so einen Vertrag zwischen mir und meinem Mann, aber dazu ein andermal.)

Auf diese Weise haben sich schon die folgenden Schlafkonstellationen ergeben: Alle im Gästezimmer (zu Beginn) | alle im Schlafzimmer mit Beistellbett | alle im Schlafzimmer mit zugestelltem Kinderbett | alle im Elternbett inkl. Zombieeffekt am Morgen. Dann: einer im Gästezimmer, zwei im Schlafzimmer | einer auf der Wohnzimmercouch, zwei im Schlafzimmer | Tochter im Gitterbett im Kinderzimmer, zwei glückliche Eltern im Ehebett (da war sie etwa 20 Monate alt – netter Versuch!).

Dann eine Phase, die ich lieber vergessen will:  Einer im Schlafzimmer, zwei im Kinderzimmer – Tochter im Gitterbett, einer auf der Matratze davor. Daraus wurde in meinem Fall leeres Gitterbett, Mutter- und Tochter auf 90er Matratze  auf dem Boden… Heute schlafe entweder ich mit meiner Tochter im früheren Ehebett und  mein Mann im eigens aufgestellten großen Bett im Kinderzimmer oder umgekehrt. Wer niemals im Kinderzimmer schläft, ist unsere Tochter…

Nicht selten finden auch mitten in der Nacht schlaftrunkene Wechsel statt. Wenn zum Beispiel Tochter mit Mutter zusammenliegt, erstere aber unausgesetzt nach Vater schreit. Dann lässt man sich nach zwei Stunden schon mal überreden. Beim Wechsel der Zimmer im Dunkeln mit Bettzeug und allem anderen Firlefanz (s.o.) gilt übrigens die Regel rechts vor links.

Von Kabelschlangen und Sockenbergen

Von Kabelschlangen und Sockenbergen

„Was ist eigentlich aus deinem Upcycling geworden“, fragt mich mein Mann gestern scheinheilig. Nur um gleich danach zu rüffeln: „Wir haben dieses Jahr schon wieder ganz schön viel neu gekauft!“ Ja, er hat Recht – ein bisschen. Aber zum Upcycling braucht man Zeit und auch die ein oder andere Fähigkeit, die ich (noch) nicht besitze. Aber ich arbeite dran. Eine Freundin bringt mir Nähen bei und mein erster Pulli ist fertig – an ihrer Maschine genäht. Sie selbst verbrachte die ersten drei Übungsstunden erfolglos damit, an meiner Maschine den Oberfaden mit dem Unterfaden zu verbinden. SORRY!

Aber zurück zu meinem Mann! Er setzt nämlich seit Sonntag seine ganz eigene Idee des Nachhaltigseins um, hat da aber irgendwas falsch verstanden: „Ich schmeiße jetzt jeden Tag ein Teil weg!“ Okaaayyyy??!! Wer meinen Mann besser kennt weiß, hier passiert etwas ganz Großes – nahezu eine Frühlings-Revolution. Seit 1998 hat er so gut wie nichts entsorgt. Gott sei Dank auch nicht sooo viel gekauft. Dafür bin ich ja zuständig.

Mein Mann besitzt Kabel und Adapter und Verbindungsstücke, Chinchstecker und Klinken, Festplatten, Kopfhörer, Konsolen, Aufladegeräte, Walkmen, kaputte Fotoapparate, Rechner mit Solarbetrieb, Mäuse, Tastaturen, noch mehr Festplatten… Das Ganze verwirrt in einem riesigen schwarzen Knäuel. Wir reden auch von einem Menschen, der Socken besitzt. Viele Socken.

Kürzlich stand er verzweifelt vor seinem Kleiderschrank und rief: „Du hast doch letztens meine 168 Strümpfe gefaltet.“ „Ja“, rief ich stolz zurück. „Da passt kein Paar zusammen!“ Ja, ist doch logisch, es waren alles einzelne Socken. Aber alle schwarz – immerhin. „Ich sag doch, wir brauchen eine neue Waschmaschine, die frisst die Dinger“, rufe ich zurück, weil ich weiß, dass er auf diesem Ohr ganz plötzlich taub wird und ich mir weitere Diskussionen erspare.

Umso begeisterter beobachtete ich gestern, wie er forschen Schrittes zu seinem Schrank marschierte, mindestens sechs lose Socken entnahm, um sie in der Mülltonne zu entsorgen. „Das ist für heute und morgen“, meinte er und griff im Vorbeigehen noch einen Lautsprecher mit SDCard-Anschluss. Wow! Nachhaltigkeit hin oder her. Ich bin stolz auf ihn! Denn schließlich ist er ein Mann und dass die manchmal mit größter Passion an irgendwelchen Dingen hängen, die weder vintage noch shabby, sondern einfach nur alt und häßlich sind, ist ja bekannt.

Wie in dieser Fernsehwerbung, die momentan läuft. Ich weiß nicht für welches Produkt – bin als Werbekunde völlig ungeeignet, wenn es nicht um Schokoriegel geht. Aber eine Frau trägt einen Karton mit Sachen durch den Flur, um sie zu entsorgen und ihr Mann greift in letzter Sekunde nach seinem alten Hut, der nun für weitere fünf Monate im Schrank rumgammeln wird. Bis seine Frau nämlich die Sommersachen wegpackt und die Wintersachen rausholt. Dann wird sie einen neuen Versuch starten.

So geht das bei uns mit verbeulten Schirmmützen, Deutschlandflaggen (die nächste WM kommt bestimmt), verwanzten uralt T-Shirts mit Erinnerungswert, verklebten Luftmatratzen, luftleeren Fußbällen und angestaubten Vorhängen in einer Farbe, die man noch nicht mal als 80er bezeichnen kann. Auch immer wieder schön und seit Jahren im Frühjahr und Herbst ein beliebtes Thema. „Hier deine beiden schwarzen Lee-Jeans, darf ich die dieses Jahr in den Altkleidersack tun?“ „Neeeeiiiin!!! Die kann man noch verkaufen, bei Ebay!“ „Das hast du letztes und vorletztes Jahr auch schon gesagt.“

Meine Mutter hielt sich vor einigen Jahren mal für ganz schlau und schmiss heimlich ein Paar Schuhe meines Vaters in den Müll. Er hatte sie seit 1986 nicht mehr getragen. Drinnen wohnte eine Spinne namens Esmeralda, die Sohle war vermoost und das Leder hatte eine Patina angesetzt, wie man sie manchmal an diesen Bronzestatuen sieht. Vorsichtig ging sie also nachts zum Schuhschrank, nahm die Schuhe – nicht ohne vorher Schutzhandschuhe anzuziehen, man weiß ja nie – schlich die Treppe hinunter und versenkte sie tief unten in der Tonne der Nachbarn.

Zwei Tage später stand mein Vater vor ihr: „Sag mal, hast du meine dunkelbraunen Lederschuhe gesehen, die von der Silberhochzeit meiner Eltern. Die sind irgendwie weg!“ Ich weiß nicht, wie die Geschichte ausging, ich war zu sehr damit beschäftigt, meine Hand vor die Stirn zu schlagen.

Der Tobsuchtsanfall an sich

Der Tobsuchtsanfall an sich

Die Trotzphase ist etwas, das jeder kennt. Dafür muss man nicht Eltern sein. Feldstudien in Supermärkten, auf Spielplätzen oder in Fastfood-Restaurants sind anschaulich genug. Was es aber bedeutet, so einem Wutzwerg (wie man diese menschgewordene Götterdämmerung verniedlichend nennt) Tag für Nacht ausgeliefert zu sein, muss man am eigenen Leib erfahren. Es ist ein bisschen, als würde man mit baumelnden Beinen am Kraterrand eines Vulkans sitzen und in die friedlich blubbernde Lava starren –  in dem naiv-fälschlichen Glauben, dass etwas, das so hübsch aussieht, doch unmöglich so schnell in die Luft gehen kann.

Es kann! Die Ursachen sind ebenso vielfältig, wie marginal. Man sitzt zum Beispiel an einem wunderschönen Frühlingstag auf einer Wiese in den Rheinauen und das Kind verliert plötzlich seinen Grashalm. Nun ist es ja nicht, so, dass man auf 110 Hektar Rasenfläche nicht einen zweiten finden könnte. Im Gegenteil hat man sogar die nicht unerhebliche Auswahl unter 27 Mrd Halmen (es ist ein sehr dichter Rasen). Aber finde mal den einen, den persönlichen, den besonderen Grashalm deines Kindes dort wieder BEVOR es merkt, dass es aussichtslos ist.

Denn wenn es das merkt, presst die Druckwelle seines Geschreis alles Grün auf die Erde, lassen die Bäume freiwillig ihre Blätter fallen und entwickelt der Tretbötchen-Teich eine Tsunamiwelle, von der die Angestellten im 40. Stock des Posttowers auch noch was haben. „ICH! WILL! MEINEN! HAAAAAALM!!!!!!!“ „Wie heißt das Zauberwort?“ „JEEEEEEETZT!!!!!“ Nein, dieser Dialog ist natürlich Quatsch. Als könnte man mit einer Zweijährigen in diesem Stadium überhaupt noch eine Art von Konversation betreiben. Völlig aussichtlos!

Als Eltern hat man in solchen Situationen mehrere Möglichkeiten. Befindet man sich gerade in den eigenen vier Wänden, werden erst einmal die Fenster geschlossen. Dann entfernt man sich von der Gefahrenquelle. Immerhin: Ab 85 Dezibel kann das Innenohr schon Schaden nehmen. Hier sprechen wir aber eher von 130. Also Düsenjäger aus 30 Meter Entfernung, inklusive Schallmauerdurchbruch. Nicht immer kann man sich von der Gefahrenquelle entfernen. Etwa, wenn die Gefahrenquelle sich nicht entfernen lässt – vom Bein an das sie sich klammert. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass sich handelsübliche Schallschützer für die Ohren in diesen Momenten immer außer Reichweite befinden.

Hat man es doch geschafft, das Zimmer zu verlassen, die Tür hinter sich geschlossen und sich schwer atmend dagegen gelehnt, kann man unterschiedliche Anrufe tätigen. @Ehemann: „Komm sofort nach Hause. DEINE Tochter flippt mal wieder aus!“ @Oma: „Hättest du Zeit zum Babysitten? Wann?! JETZT!!!“ @Nachbarin: „Du hast doch letztens von diesen Rescue-Tropfen erzählt. Kannst du die rüberbringen?“ Wenn keiner da ist bzw. sie deine Nummer im Display gesehen haben und deshalb auch beim achten Klingeln nicht abheben, bleibt noch die Adoptionsvermittlung.

Sich dem Wutzwerg entgegenzustellen versucht man ein oder zwei Mal und ist dann eines Besseren belehrt. Dauer und Intensität des Tobsuchtsanfalls verhalten sich proportional zum erfahrenen Gegendruck. Bleibt eigentlich nur eins: Diese Situationen so gut es geht zu vermeiden. So gestaltet sich der Alltag mit einem Kind in der Trotzphase wie ein 100-Meter-Lauf über rohe Eier. Wenn die Stimmung langsam zu kippen droht, bieten wir unserer Tochter zunächst ein erprobtes Gegenmittel an, das man aber früh genug einsetzen muss: Kakao.

Dazu gehört die folgende Zeremonie: Man nehme ein Glas und fülle es zur Hälfte mit Milch… „MEHR!“ …fülle es zu drei Vierteln mit Milch. Man hebe das Kind alsdann auf die Arbeitsplatte, damit es das Pulver „SELBST!“ aus dem Schrank nehmen kann. Klemme sich das Kind unter den Arm, entnehme DEN EINEN BESTIMMTEN Löffel der Besteckschublade und platziere Pulver auf dem Tisch, Kind am Tisch und den Löffel in seiner Hand.

Man entnehme die angewärmte Milch der Mikrowelle und führe vorsichtig die Hand des Kindes beim Einfüllen des Kakaopulvers… „ALLEINE!“ …äh, führe NICHT die Hand, sondern besorge Besen und Kehrblech. Man lasse das Kind umrühren und animiere zum Probieren… „Warm machen!“ – „Aber es war schon in der Mikro…“ – „WARM MACHEN!!“ „Ja, entschuldige, schon gut!“ Wärme den Kakao noch einmal auf, reiche einen rosa Strohhalm und überlasse das Kind der Sauerei, die es im Folgenden anrichtet. Man freue sich abschließend über den robusten PVC-Boden in der Küche.

Mit etwas Glück schaffst du damit eine Stimmung, die den nächsten Anfall in zweistündige Ferne rücken lässt. Am Ende sinkt  man ermattet aufs Sofa, pustet die Haare aus der verschwitzen Stirn und harrt still und unerschütterlich der nächsten Dinge, die da kommen.

Von Pods und Pads

Von Pods und Pads

Ein langes selbstreflektierendes „Hmmmm“ entschlüpfte mir heute bei der Lektüre eines Artikels zum Thema: „Mama, wo bist du?“ Na, nicht hier! Zumindest nicht geistig. Ich muss Mails checken (wenn vielleicht auch
nicht 148). Außerdem: Whatsapps nachgucken, SMS schreiben, News lesen, die Fahrzeiten der Schiffslinie nach Köln googeln, Fotos bearbeiten, Blogs schreiben und Artikel lesen… Lange, nicht selbstreflektierte „Hmmmms“ sind deshalb oft die Antwort auf mannigfaltige Anfragen meiner Tochter, während ich dies tue. Eigentlich kein Zustand oder zumindest einer, den man besser dem Jugendamt melden sollte.

Wenn –  ja, wenn dieses Verhalten nicht den Großteil einer Elterngeneration beträfe, die an und für sich das Beste für ihre Kinder will und tut. Zumindest in den Minuten, in denen sie nicht auf einen Bildschirm
starrt. Die Studie einer großen Krankenkasse hat ergeben, dass die Deutschen täglich über drei Stunden einen Screen oder ein Display fixieren. Und das nur in der Freizeit! Macht also für alle Vollzeit-Büroleute und sonstige PC-Arbeiter mehr als zehn Stunden werktäglich. Wenn ich mir unseren eigenen Alltag anschaue, ist das durchaus realistisch. Oh Graus!

Schuld ist natürlich – wer hätte etwas anderes gedacht – mein Mann. Er ist genauso verantwortlich für das massive Endgeräteaufkommen in unserer Wohnung, wie ich für Papiervögelchen und Kissen in Vintage-Postsack-Optik. Der überdimensionierte Flachbildfernseher, der das Wohnzimmer verunstaltet, geht ebenso auf sein Konto wie Pods, Pads, Kindles, Smartphones und Laptops. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich keinen Fernseher, ein geerbtes Handy von 2009 und viele neue Bücher – aus Papier. Trotzdem will und kann ich keinen meiner Screens mehr missen und meinen Mann natürlich auch nicht.

Für unsere 2,5-jährige Digital Native bedeutet das alles neben Elektrosmog und geistig abwesenden Eltern vor allem eine bewundernswerte Expertise in Sachen Touchpad-Navigation. Schon mit eineinhalb Jahren suchte sie sich ihre Videos auf dem iPod selbst aus, schaute Fotosstrecken an und versuchte, das Laptop-Ladekabel in ihr Liederbuch zu stecken. Das Wort „Aufladen!“ (ja, mit Ausrufezeichen) gehörte zu ihrem frühesten Wortschatz. Der erste von ihr selbst gegoogelte Begriff war übrigens „McDonalds“, der zweite „Määähry Christmas“.  Heute kann sie „Jonalu“ – den Titel ihrer Youtube-Abendserie – fast schon alleine eintippen.

Für eine Mutter, die Bullerbü für die idealste aller Welten hält und ihr Kind am liebsten auf Wiesen, Weiden und im Matsch sieht – also für mich – ein Grund, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Eigentlich! Gäbe es da nicht diese neue Entwicklung: Unsere Tochter interessiert sich plötzlich wesentlich mehr für Pfützenpatschen, Ameisenbeobachten und Hühnerstreicheln als für Padpod und Konsorten. „Jonalu“ gehört zum Abendprogramm, der musikalisch tänzerische Output der Serie bereichert unseren Alltag. Ansonsten: Mal ein kurzer Switch durch die aktuellsten Bilder, ganz selten ein interaktives Wimmelbild, hin und wieder die eigenen Baby-Videos auf dem Laptop gucken. Das war’s. Vorerst!

Was wir von unserer Tochter derzeit lernen können? Zehn Minuten lang konzentriert auf ein Stück Wiese starren kann ereignisreicher und erfüllender sein, als jeder screentransportierte Inhalt. Binsenweisheit ja – aber ich hätte sie fast vergessen und werde meinem Mann gleich mal davon erzählen, wenn er das Tablet weglegt und den Fernseher ausmacht und ich meinen Blog beendet habe…