So ein Trauma lässt sich ja wunderbar in der frühen Kinderheit anlegen, um dann mit fortgeschrittenem Alter die Kassen der Psychotherapeuten klingeln und Berufsunfähigkeitsversicherungen abwinken zu lassen. So hatte ich als Kind eine ausgewachsene Männerphobie. Meine Mutter und ich haben uns dazu Gedanken gemacht. „Du bist deinem Vater mal vom Wickeltisch gefallen“ – „Ob ich wohl eine Frauenphobie entwickelt hätte, wenn dir das passiert wäre…“. Oder: „Dein Onkel UND ein Freund von uns hatten einen Bart, gepaart mit einer lauten Stimme“ – „Das hat mich beim Nikolaus aber auch nicht gestört!“ – „Doch!“ – „Echt?!“
Meine Phobie hatte sich dann endlich in der zweiten Klasse ausgewachsen. Als letztes erinnere ich mich noch, wie ich panisch vor einem Mathe-Vertretungslehrer aus dem Klassenzimmer floh. Seinen perplexen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Fluchtgedanken hatte ich im Matheunterricht noch bis zum Abitur, aber das bezog sich mehr auf Algebra und Vektorenrechnung als auf das Geschlecht der Lehrperson. Auch heute noch ploppen hin und wieder ungute Gedanken zum männlichen Geschlecht bei mir auf, etwa in der Auseinandersetzung mit meinem Mann, dem Kfz-Mechaniker oder dem gegnerischen Anwalt.
Und auch das Bartproblem scheint sich noch nicht ganz gelegt zu haben. Zum Beispiel beschleichen mich ungute Gefühle, wenn mir in der Bahn ein Mann mit langem schwarzen Gesichtshaar und Wallegewand gegenüber sitzt. Aber ich bin ja aufgeklärt und tolerant, ich ziehe in solchen Fällen nicht gleich die Notbremse, sondern beschränke mich darauf, beim nächsten Halt unauffällig schnellen Schrittes den Zug zu verlassen – um dann frierend im Niemandsland auf der Bahnsteigkante zu sitzen und wichtige Termine zu verpassen…
Das Trauma meiner Tochter
Auch meine Tochter hat nach einem Jahr Kindergarten nun das erste richtige Trauma eingefahren. Und darauf werde ich künftig alle ihre Verhaltensauffälligkeiten zurückführen. „Was du willst einen MANN heiraten??? Das muss an deinem ersten Kindergartenjahr liegen. Damals in der Mäusegruppe…“ Den Rest werde ich wohl der Tür erzählen, die sie hinter sich zugeworfen hat. Vielleicht sollte ich doch mal zum Therapeuten…
Aber zurück zu ihrem Trauma. Als sie mit zwei Jahren in der Kindergarten kam, wollte ich nicht, dass sie Würstchen isst. Ich dachte, sie könnte sich an der Pelle verschlucken. Verschluckt hat sie sich dann später an einem großen Gummibärchen. An solche Gefahren hatte ich im Voraus gar nicht gedacht. Kita und Süßes schlossen sich in meiner mittlerweile bekannten Naivität irgendwie aus…
Jedenfalls traute ich den Erziehern die Trennung zwischen Würstchen und anderen fleischhaltigen Lebensmitteln nicht zu. Zu Recht, wie ich spätestens heute weiß, denn es kam schlimmer: Ich schrieb also in den
Fragebogen zur Anmeldung „vegetarische Ernährung“. Nachdem ich mir jedoch ausmalte, wie meine Tochter einsam und allein an einem Grünkernbratling kaut, während sich die anderen leckere Buletten reinziehen, änderte ich spontan meine Meinung und teilte der Gruppenleitung mit, dass meine Tochter aber auch wirklich jede Schweinerei mitessen dürfe. Leider kam diese Änderung aber weder am Frühstücktisch noch an der Mittagstafel jemals an.
Über die Monate entwickelte meine Tochter zu Hause eine massive Abneigung gegen Käse und alles, was jemals im Supermarkt neben dem Käse oder aber im Umkreis von drei Metern gelegen hatte. Da mein Mann auch keinen Käse isst, dachten wir: die Gene. Ich wunderte mich nur ein bisschen, weil sie vorher so süchtig nach Babybell gewesen war, dass sie ihn auch gerne mal mit Wachsschale aß, wenn ich nicht schnell genug bei der Hand war.
Die will immer Fleisch!
Im Kindergarten meckerte man im Halbjahres-Rückmeldegespräch. „Ihre Tochter ist eine ganz schlechte Esserin, die will immer Fleisch.“ – „Ja“, lachte ich, „zu Hause auch. Am liebsten mag sie aber Fisch.“ Die
Reaktion auf diesen Satz folgte leider etwas zeitversetzt, nämlich erst beim Abschluss-Gespräch Anfang Juli. „Wie Fisch???“ – „Ja, halt alles: Lachs, Thunfisch, Sardinen, Seelachs…“ – „Aber, sie ist doch
Vegetariarin.“ – „Äh, nein!“ – „Oh, das erklärt jetzt aber einiges…“ Zum Beispiel, dass meine Tochter oft heulend am Kita-Tisch saß, ewig zum Essen brauchte und manchmal sogar lieber frühzeitig ins Bettchen ging,
als einen Bissen zu sich zu nehmen.
Schatz, mal mir doch mal ein Käsebrot! |
Schlimmer aber noch, als die Diskriminierung war das, was beim Frühstück passierte. Da saß sie das ganze geschlagene Jahr vor einem – KÄSEBROT. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste jeden Werktag damit beginnen ROSENKOHL zu essen… Das ist Guantanamo in Reinform! Kein Wunder, dass dieses Kind heute sogar den Käse von ihrer geliebten Pizza abkratzt! Und wie muss sie sich gefühlt haben, bei all diesen unerreichbaren Köstlichkeiten um sie herum. Wie ich, in meinen besten Weight Watchers-Zeiten, mit dem Unterschied, dass ich es nötig hatte – und mal wieder hätte…
Das Beste kommt aber wie immer zum Schluss. Als ich dieses Drama der Frau Elternbeirat erzählte, war sie völlig erschüttert. Einerseits aus Mitleid, andererseits: „Oje, ich weiß, dass es nur ein Kind in der Gruppe gab, das vegetarisch ernährt wurde. Dann war das deine Tochter. Es sollte aber eigentlich Ronja sein. Wenn ihre Eltern wüssten, dass sie jetzt das ganze Jahr Fleisch bekommen hat, die würden ausflippen!!“ Oh Mann! Aber ich denke, die Kleine hat’s sicher gefreut.
Toll jetzt kriege ich ein Trauma, wenn die im Kindergarten vegetarisch nicht von nicht-vegetarisch unterscheiden können, wirds ein Schlüsselkind mit Babysitter.