Zuverlässig unstrukturiert
Kinder brauchen Struktur! Ja, das weiß ich auch. Aber was ist, wenn man selber einer der unstrukturiertesten Menschen überhaupt ist? Neben „kreativem Chaos“ steht mein Tagesablauf im Lexikon. Ich schaffe es einfach nicht, einen Tag wie den anderen zu gestalten. Gerade war ich bei meinen Eltern. Von denen habe ich das nicht! Die sind so was von durchorganisiert. Wenn die eine Aufgabe anfangen, dann bringen sie sie auch zu Ende. In aller Gemütsruhe – einen Schritt nach dem anderen.
Wenn ich eine Aufgabe anfange, dauert es nicht lang und mit schießt irgendwas Unaufschiebbares, durch den Kopf, etwas, das ich sonst vergesse, wenn ich es nicht sofort… Oder mir wird kalt und ich brauche eine heiße Dusche (kommt im Juli schon mal vor) oder mein Handy sagt, dass jemand Geburtstag hat und wenn ich jetzt nicht gratuliere, dann erst wieder nächstes Jahr…
…oder es ruft jemand an oder der Postmann klingelt oder ein interessanter Vogel lässt sich auf der Balkonbrüstung nieder und ich muss unbedingt mal googeln, was es für einer ist und wenn ich schon dabei bin, muss ich auch unbedingt googeln, wie Raben in der Balzzeit machen. Ich habe da nämlich so einen interessanten Ruf letztens gehört, da gibt es doch sicher ein Youtube-Video. Oje, Youtube funktioniert nicht. Was ist da los? Da muss ich gleich mal meinen Mann anrufen und fragen. Der kann mir auch keine Antwort geben, sagt mir aber, dass ich dringend noch diese eine Handwerkerrechnung überweisen muss. A propos Handwerker, wieso ist das bestellte Gartentörchen noch nicht da, da guck ich besser mal bei Ebay rein und schreib ne Pöbelmail oder ich geh lieber vorher zu den Nachbarn, nicht dass sie es schon angenommen haben. Ach ja, die Nachbarn, die haben doch letztens den Rabarber rüber gebracht, dann könnte ich ihnen doch was von unseren Himbeeren… Viele Himbeeren sind das ja nicht! Oje, die Schnecken haben auch noch die letzten Sonnenblumen gekillt, wie kommen die bis auf ein Meter Höhe? Ich muss unbedingt zum Baumarkt und Schneckenkorn kaufen, haben meine Eltern gesagt. Und wenn ich da schon mal bin, kann ich ja auch mal die Grundierung für das Gästezimmer kaufen, da müssen wir langsam mal mit fertig werden, sonst haben wir hier Weihnachten noch Kartons stehen. Weihnachten! Geschenke! Naja, es ist noch ne Weile hin, aber da fällt mir ein, ich muss dringend mit meinem Bruder besprechen, was wir jetzt mit Papas Geburtstagsgeschenk machen. Und ich muss die Fotografin anrufen, wegen des zwei Jahre alten Geburtstagsgutscheins für das Familienshooting mit meiner Mutter. Wir haben noch so viele Gutscheine nicht eingelöst. Wie lange ist so ein Gutschein überhaupt gültig, muss ich mal googeln…
Wo war ich? Was wollte ich??
Das war ein Fünf-Minuten-Ausschnitt aus meiner Gedankenwelt. So geht das den lieben langen Tag und abends fragt mich mein Mann, warum ich nicht gekocht habe und was ich die ganze Zeit so mache. Erstens: Wer soll denn dabei noch kochen? Zweitens: Weiß ich nicht, was ich den ganzen Tag gemacht habe. Irgendwie erinnere ich mich dunkel, dass ich zwei Artikel fertig gestellt, mein Kind pünktlich von der Kita abgeholt, es verköstigt und bespaßt habe, dann war ich noch beim Bäcker und dann? Dann habe ich einen Filmriss, aber ich bin sicher, es ging im gleichen Ton wie oben weiter und weiter und weiter… Weil es immer so weiter geht, bis ich abends die Augen zu mache. Dann schlafe ich: Gott sei Dank.
Ja, ich bin unstrukturiert. Ja, das färbt auch auf meine Familie ab. Nein, ich kann nicht ohne Internet leben. Schön wäre es, aber ich bin Online-Redakteurin. Vielleicht sollte ich umschulen, auf Floristin oder so. Da fällt mir ein, ich muss noch die Blumen im Vorgarten wässern, es hat nicht geregnet, obwohl es den ganzen Tag so aussah. Was ist das überhaupt für ein Wetter? Ich spüre schon ein Kratzen im Hals, die Tochter hat nachts gehustet. Ich muss mal bei der Homöopathin anrufen, überhaupt ist da mal wieder ein Termin fällig…
Ächz!
Eure Nachbarin (glaube ich)
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