Jun 6, 2016 | Reine Erziehungssache
Gestern waren wir auf dem Petersberg und alles hat geglitzert. Da ich ja keine Nachrichten verfolge und mein Mann auf RTL 2 ausschließlich Frauentausch guckt (das übrigens mit Begeisterung, vielleicht sollte ich ihn mal anmelden…), war uns Ignoranten gar nicht klar, warum. Später haben wir erfahren, dass tags zuvor offensichtlich eine Katzenhochzeit dort stattgefunden hat. Ich bin ja eher der Hundetyp, aber der noch vorhandene Rosenbogen an der Kapelle war durchaus sehenswert.
Die Wandlung
Aber davon nur am Rande. Eigentlich wollte ich von der wundersamen Metamorphose berichten, die unsere Tochter durchgemacht hat. Bis vor Kurzem, also genau genommen bis gestern, war es ihr nämlich kaum möglich, ohne Lautäußerung einen Schritt vor den anderen zu setzen, wenn ein Spaziergang sich anschickte, länger als zehn Minuten zu dauern. Also, im Prinzip, wie ich beim Joggen – inklusive asthmatischem Keuchen (bei mir echt, bei ihr gestellt).
„Mir tun die Beine, Füße, Rücken, Arme, Leber, Nieren, Ohrläppchen weh“, geht nach hundert Metern zuverlässig das Gejammer los. „Mir ist heiß, ich hab Hunger, ich hab Durst…“ bis hin zu: „Ich kann nicht mehr!!“ „Ich kann GAR NICHT mehr!!!“ „Mama, Papa, hört mir doch mal zu!!!!“ „Lasst mich einfach hier liegen!“ (ach ne, das bin ich beim Joggen). „Traaaaaagggg mich!!!“ (auch ich beim Joggen). „Papa, trag mich! Auf die Schulter!!!“ (unsere Tochter). Er abwehrend: „Kind du hast drei Kubikmeter Mutterboden an den Schuhen, wie hast du das auf hundert Metern laubbedecktem Waldboden geschafft???“
Kloreiche Idee
Kürzlich waren wir bei meinen Eltern und ich hatte die glorreiche Idee ihr Laufrad mitzunehmen. Damit fährt sie locker zwei Kilometer, wusste ich. Allein, das Kind wollte nicht aufs Laufrad. Also trug der Vater das Laufrad, die Mutter den Helm, der Opa das Kind und die Oma eine Miene zur Schau, die besagte: Dir liebe Tochter hätte ich sowas nicht durchgehen lassen. Das stimmt. Wir mussten immer Spazieren gehen. Jedes Wochenende. Ich habe es gehasst. Heute wäre ich froh, wenn ich meinen Mann besser von der Couch hochbekommen könnte.
Denn: Beim Wandern oder auch nur beim Spazierengehen – hier zu Hause gibt es größere Differenzen bezüglich der Definition – habe ich nicht nur ein zeterndes Kind an den Hacken, das ich mit Schatzsuchen, Fantasiespielen, Essen, Getränken, Spielplätzen, Dammwild und die Aussicht auf ein Eis bei Ankunft bei Laune halten muss. Nein, da ist auch noch der Mann: „Du hast nicht gesagt, dass wir so weit gehen. Dann hätte ich andere Schuhe, eine andere Jacke, eine andere Hose, eine andere Tasche genommen oder gleich jemand anderen mitgeschickt.“
Oder: „Es ist ja kein Wunder, dass das Kind jammert. Wenn du wandern gehen willst, bringen wir sie lieber zur Oma.“ Ich: „Das ist keine Wanderung, das ist ein Waldspaziergang.“ Er: „Ein Spaziergang darf mit An- und Abfahrt maximal eine Stunde dauern.“ Ich: „Ja, dann hätten wir eben auf das Picknick verzichten müssen.“ Er (jammernd): „Du weißt, dass ich vom Spazierengehen Nackenschmerzen kriege.“ Ich: „Okay, es ist doch eine Wanderung.“ Er: „Eine Wanderung muss zwei Wochen im Voraus angekündigt werden…“ Und so weiter und so fort.
Alles anders
Aber gestern, ja gestern war alles anders. ICH hatte bei 25 Grad und 95 Prozent Luftfeuchtigkeit keine Lust, mich mehr als nötig zu bewegen. Und plötzlich wollte mein Mann den Petersberger Wald erkunden. Hier noch lang und da noch lang. Die Tochter kriegte nach 200 Metern ihren obligatorischen Krampf und er zauberte ein Brötchen aus dem Rucksack. Also ein Zauberbrötchen. Denn mit einem Mal wurde aus unserer Tochter ein Duracell-Einhorn, das in wilden Sprüngen den Petersberg hinunter hüpfte. Dummerweise hatten wir ja oben geparkt.
Als wir daran dachten, waren wir aber schon halbe Strecke Tal, denn Töchterlein legte ein unglaubliches Tempo vor. „Okay, ich laufe wieder hoch, hole das Auto und wir treffen uns dann unten“, rief mein Mann, ob der sich abzeichnenden sportlichen Herausforderung plötzlich Feuer und Flamme. Und während ich – als einzige mit Wanderschuhen ausgestattet – vorsichtig nach Halt suchend den Berg heruntereierte, tanzte meine Tochter in zu großen Gummistiefeln leichtfüßig durch steile verschlammte Bachbetten, dschungelartig überwucherte Hohlpfade und klammgleiche Schluchten. Immer dreißig Meter voraus.
Gerade noch rechtzeitig
Dabei sang sie so laut „Hopp hopp hopp, Einhorn lauf Galopp“, dass sich sogar entgegenkommende Wanderer motiviert fühlten und einen Zahn zulegten. Was soll ich sagen, wir kamen genau in dem Moment im schönen Kloster Heisterbach an – unsere Talstation – in dem mein Mann dort auf dem Parkplatz fuhr. Es war genau der richtige Zeitpunkt, denn gerade hatte Töchterchen ihren Gesang eingestellt und ein ungewöhnlich dezentes: „Ich kann nicht mehr“, hören lassen. Ich hoffe, das war der Beginn einer wunderbaren familiären Wanderepoche, denn bald kommt Ben zu uns und ich habe keine Lust als einzige mit ihm Gassi zu gehen.
Auf die Hufe!
Eure Nachbarin
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