Mai 26, 2014 | Alltagschaos, Mein Senf
„Wenn Sie merken, Sie reiten ein totes Pferd – steigen Sie ab.“ So sprach einst unser Kinderarzt in Bezug auf Hausmittel gegen Säuglingswehwehchen. Dass wir diesen Satz bald auf ihn beziehen könnten, hätten wir damals nicht gedacht…
Ach, was hatten wir doch für eine schöne Kindheit in den 80ern. Erstmal alles mitgenommen, was es so an Masern, Mumps und Windpocken gab, und dann kam der nette Doktor mit seiner schwarzen Arzttasche, Stethoskop und Tröste-Gummibärchen. Wohlgemerkt ans Kinderbett – auch aus der Innenstadt in den Vorort. Und heute? Da kann man froh sein, wenn es heißt: „Dann laden Sie mal
ihre fiebernden und reiernden Zwillinge ins Auto und kommen her. Aber bringen Sie viiiiiel Zeit mit!“
Immer öfter steht aber noch nicht mal dieses Angebot. Stattdessen schallt es entgeistert durchs Telefon: „Krank? Ihre Tochter? Und dann rufen Sie HIER an????“ – „Äh ja, Sie sind doch unsere Kinderarztpraxis?!“ – „Das mag sein, aber kommen Sie in Ihrem Interesse bloß NICHT rein!! Sie glauben ja nicht,was hier los ist.“ Und das ist noch die freundliche Variante. „Brrrsss, zzzz, kkrrrzzz – tut mir Leid, ich kann Sie nicht hören … die Leitung ist gestört … rufen sie nächstes Jahr nochmal an“, lautet die kreativ ausweichende. Und ein geraunztes „Sie machen wohl Witze!“, gefolgt von einem langen „Tuuuuuuuut!“ die ehrliche.
Ein kleines Mädchen aus unserer Kita landete auf diese Weise im Krankenhaus. Die Zweijährige hatte sich einen Magen-Darm-Virus eingefangen. Einen Termin bekam ihre Mutter natürlich nicht, dafür ein Päckchen Brechmittel. Die Information, dass sie das Präparat maximal zweimal geben durfte, fiel im hektischen Praxis-Vorzimmer irgendwie unter die Theke. Also, gab sie es alle acht Stunden und der Kleinen ging es schlecht!
Ich weiß nicht, ob sie sich die richtige Dosierung aus dem Internet gefischt hat – Doktor Google ist 24 Stunden für Sie da – jedenfalls dämmerte ihr: Da läuft was falsch. Die Zeit, die es brauchte, den Kinderarzt an die Strippe zu kriegen – nämlich zwei Stunden – füllte sie klugerweise mit einem Anruf beim Giftnotruf. So kam ihr völlig ausgetrocknetes Kind noch rechtzeitig in die Klinik, wo es drei Tage am Tropf hing und sich erholte. Zu dieser gefährlichen Misere fiel besagtem Kinderarzt folgendes ein: „Ich hab hier 100 Kinder am Tag, Sie können sich gerne eine Alternative suchen.“ Ach so.
Dass der gute Onkel Doktor am Kinderbett ins Reich der 80er-Jahre-Bilderbücher gehört, haben wir verstanden. Und auch, dass man sich als erstes im Internet schlau macht (3,3 Mio Suchergebnisse zum Thema „komische rote Flecken“). Ebenso richtet man sich als Kassenpatient automatisch aufs Warten ein: „Schatz, wie wollen wir unseren Sommerurlaub legen?“, fragte mein Mann an Weihnachten. Ich: „Wieso?“ Er: „Ich brauche einen Augenarzttermin.“
Soweit, so naja. Aber: Müssen wir wirklich damit leben, dass Ärzte vor lauter Stress und Budgetproblemen ihre Berufung verlieren und ihren Hippokratischen Eid vergessen? Zur Erinnerung, da heißt es unter anderem: „Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.“ Hmmm… Klar, es liegt nicht nur am Arzt, viele arbeiten sich kaputt. Es ist auch das kranke System, das für jeden Patienten rund 35 Euro Budget im Quartal vorsieht…
„Wir haben immer noch eines der besten Gesundheitssysteme der Welt“, sagen indes selbst Kritiker. Klar, unter den Blinden… Der Alltag sieht nicht so aus. Und eine Spontanheilung ist in dieser Sache nicht in Sicht. Mein Mann hatte zu Silvester nach vielen Enttäuschungen im letzten Jahr einen guten Vorsatz: „Ich werde einfach nicht mehr krank.“ Nachdem es jetzt Mai ist und er in den letzten Monaten selten wirklich gesund war, hat er es trotzdem nochmal bekräftigt: „Prävention ist alles!“ Ich halte das für eine gute Idee und schaue gerade etwas reuig auf die leere Tüte der Gummibärchen, die ich zum Frühstück hatte, während ich mir am PC den Hintern breit sitze…
Vorbeugen ist wichtig. Trotzdem kann es doch nicht sein, dass man von Ärzten keine Hilfe mehr erwartet. Gott sei Dank gibt es sie aber vereinzelt noch: Menschliche Mediziner, Kinderärzte, die Kinder MÖGEN. Unser Arzt gehört nicht dazu. Immer kürzer angebunden schleust er seine kleinen Patienten fließbandmäßig durch. Interesse und Feinfühligkeit sehen anders aus.
„Ich kann mir heute das Ekzem Ihrer Tochter am Handgelenk anschauen, aber für das am Bein machen Sie mal einen neuen Termin“, sagte er irgendwann ungeduldig, nachdem wir zwei Wochen auf den Termin und eineinhalb Stunden im Wartezimmer gewartet haben. Seither steigen wir vom lahmen Gaul auf 70 PS um und fahren so oft es geht über zwei Autobahnen zu einer Ärztin im Norden der Nachbarstadt. Sie ist aufmerksam, hat eine lustige Brille und brüllt uns die Diagnose nicht über das angstvolle Weinen unserer Tochter hinweg zu. Mehr ist derzeit nicht zu wollen.
Mai 13, 2014 | Mein Senf, Uncategorized
Seid nett zu Minderheiten. Zu Sinti und Roma, zu Piratenpartei-Wählern, zu Männern – als Frauen – mit Bart. So weit, so unterschreibenswert. Aber was ist das eigentlich, eine Minderheit? Irgendwie immer die andern, oder? Aber sind wir nicht alle ein bisschen Minderheit, wenn wir nicht gerade auf der Waage stehen? Da bin ich in letzter Zeit irgendwie immer in der Mehrheit – gegenüber meinem Gewicht von letzter Woche. Aber ansonsten…
Jeder von uns gehört doch irgendeiner Minderheit an. Bei mir muss man nicht lange suchen: Rote Locken! Genaue Zahlen gibt es nicht, aber etwa zwei Prozent der Echthaarträger in Deutschland sind rothaarig. Man muss kein Mathegenie sein, um festzustellen: Das sind nicht so viele. Eine andere Minderheit, zu der ich mich zähle, sind die Synästhetiker. Das ist keine Sekte, kein künstlerischer Berufszweig und auch keine Krankheit. Manchmal ist es nervig, manchmal ein Geschenk, in meinem Fall weder das eine noch das andere, kommt aber immer gut, wenn einem an der Bar mal der Gesprächsstoff ausgeht.
Bei Synästetikern sind zwei unterschiedliche Sinnesbereiche gekoppelt, die normalerweise nicht gemeinsam auftreten. Das heißt in der Praxis: Für den Synästhetiker kann Fisch nicht nur fischig, sondern auch stachelig schmecken. Wirft er einen Stein ins Wasser, hört er die ringförmigen Wellen vielleicht summen oder knacken. Beobachtet er, wie sich zwei Menschen die Hand schütteln, fühlt er die Berührung am eigenen Körper. Das geht ja noch, einen Boxkampf sollte der sich aber lieber nicht anschauen. Ein berühmter Synästhetiker ist übrigens Kandinsky, der in seinen Bildern das verarbeitete, was er beim Hören klassischer Musik sah.
Unter den Synästhetikern, von denen es in Deutschland geschätzt 400.000 gibt, gehöre ich wiederum zur langweiligen Mehrheit, die vor allem Buchstaben, Zahlen und Wochentage farbig sieht. A ist gelb, e ist rot, 1 ist blau, 7 ist lila, der Dienstag rosarot, der Freitag weiß. Dabei sehe ich die Farben so, wie wenn man sich zum Beispiel die Farbe des eigenen Autos vorstellt. Also vor dem inneren Auge. Keine bunten Zeitungen und Buchseiten im klassischen Sinne. Auf meinen Alltag wirkt sich das nicht weiter aus. Eigentlich müsste ich mir Telefonnummern besser merken können als andere. Fehlanzeige. Dafür ist meine Kontonummer blau-grün-weiß-grün-rot-gelb-grün-braun-lila. Und meine Geheimzahl… äh, lassen wir das… 😉
Jetzt weiß ich natürlich nicht, wieviele rothaarige Synästhetiker es in Deutschland gibt, aber so viele werden es wohl nicht sein. Mein Mann ist keiner, akzeptiert aber, dass die Farben eines potentiellen Vornamens
fürs Kind mit denen des Nachnamens harmonieren sollten. A propos Vornamen: Mein Mann gehört wohl zur Minderheit der Menschen, die nach ihrem Geburtsort benannt worden sind. Gott sei Dank ist der weder
Castrop-Rauxel noch Uppsala – obwohl, letzterer hätte farblich gut zu seinem Nachnamen gepasst.
Mai 6, 2014 | Reine Erziehungssache
Saß ich jüngst in einem der klapprigen Nahverkehrsmittel, die im südlichen NRW Städte und Städtchen verbinden. Es war 18 Uhr, die Bahn voll und es roch nach einem langen Arbeitstag. Ein paar Reihen weiter hing eine Frau in ihrem Sitz: die Augen geschlossen, den Mund geöffnet. Ihr Kopf schwankte willenlos mal Richtung Fenster, mal Richtung Sitznachbar.
Erst machte ich mir Sorgen… Doch dann öffnete sie kurz die Augen und darin las ich. „Ich bin berufstätige Mutter von drei Kindern! Ja, und ich schlafe hier! Weil ich sonst nicht dazu komme! Und es ist mir sowas von egal, ob ich dabei dämlich aussehe. Wehe, es weckt mich jemand auf! Mit etwas Glück verpasse ich meine Haltestelle und fahre einfach immer weiter im Kreis…“
Kinder und Schlaf sind inkompatibel…
Dafür müssen die Kleinen noch nicht mal auf der Welt sein. In der Schwangerschaft fängt es an: Wadenkrämpfe lassen einen im vierten Monat rumpelstilzchenartig aus dem Bett hüpfen. Dann folgt die Blase, die zwar irgendwann leer ist, sich aber nie so anfühlt. Der Bauchschläfer hat ja schon früh verloren, der Rückenschläfer – also ich – spätestens, wenn er bei dem Versuch, in der geliebten Position einzuschlafen, in Ohnmacht fällt. Nach der Entbindung folgt „24/7/2-3“ (auch bekannt als zwei bis drei Stunden Taktung).
Jetzt kommt das alles nicht wirklich überraschend, hat man sich doch im Normalfall neun Monate lang ins Thema eingearbeitet. Dass so ein Erdenneuling nicht von Anfang an elf Stunden durchschläft, erwartet auch niemand. Dass das Thema „Schlafmangel“ aber auch drei Jahre später noch akut sein könnte, hat uns keiner gesagt!! Meine Familie hat sich in ein wanderndes Feldlager verwandelt, immer auf der Suche nach ungestörten Nächten.
Kürzlich ist mir aufgefallen, dass ich mich abends nur noch selten umziehe, sondern ermattet in Straßenklamotten irgendwo niedersinke. Ich dachte noch: „Das war doch früher nicht so…“, da fiel mein Blick auf ein vertrautes abendliches Bild: Mein Mann mit Bettdecke, Wolldecke, Kissen, Oropax und Kindle im Arm wankte verwirrt durch die Wohnung auf der Suche nach einem guten Schlafplatz für die Nacht. „Klar, dachte ich: Früher lag mein Schlafzeug immer am Fußende meines Bettes unter meiner Decke. A propos, wo ist überhaupt meine Decke? Wo habe ich letzte Nacht geschlafen?“ Kopfkratz!
Der beste Schlafplatz der Wohnung befindet sich egal wo, Hauptsache weit weg von unserer Tochter. Neben ihr zur Ruhe zu kommen ist, als würde man versuchen, im FC-Fanblock ein Nickerchen zu machen, wenn die Mannschaft gerade verliert… Da unsere Tochter allerdings nach wie vor Probleme mit „weit weg“ im Zusammenhang mit „schlafen“ hat, gibt es Nacht für Nacht eine Abstimmung darüber, wer bei ihr, soll heißen, in einer ruhelosen ringkampfartigen Umarmung mit dem Kinde schläft.
Ehebett???
Schon lange ist aus unserem Ehebett ein Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Bett geworden. Dort schläft der, der nicht arbeiten muss, nicht krank ist, eine Wette verloren oder wie in meinem Fall, unerlaubt Schokolade gegessen hat. (Es gibt da so einen Vertrag zwischen mir und meinem Mann, aber dazu ein andermal.)
Auf diese Weise haben sich schon die folgenden Schlafkonstellationen ergeben: Alle im Gästezimmer (zu Beginn) | alle im Schlafzimmer mit Beistellbett | alle im Schlafzimmer mit zugestelltem Kinderbett | alle im Elternbett inkl. Zombieeffekt am Morgen. Dann: einer im Gästezimmer, zwei im Schlafzimmer | einer auf der Wohnzimmercouch, zwei im Schlafzimmer | Tochter im Gitterbett im Kinderzimmer, zwei glückliche Eltern im Ehebett (da war sie etwa 20 Monate alt – netter Versuch!).
Dann eine Phase, die ich lieber vergessen will: Einer im Schlafzimmer, zwei im Kinderzimmer – Tochter im Gitterbett, einer auf der Matratze davor. Daraus wurde in meinem Fall leeres Gitterbett, Mutter- und Tochter auf 90er Matratze auf dem Boden… Heute schlafe entweder ich mit meiner Tochter im früheren Ehebett und mein Mann im eigens aufgestellten großen Bett im Kinderzimmer oder umgekehrt. Wer niemals im Kinderzimmer schläft, ist unsere Tochter…
Nicht selten finden auch mitten in der Nacht schlaftrunkene Wechsel statt. Wenn zum Beispiel Tochter mit Mutter zusammenliegt, erstere aber unausgesetzt nach Vater schreit. Dann lässt man sich nach zwei Stunden schon mal überreden. Beim Wechsel der Zimmer im Dunkeln mit Bettzeug und allem anderen Firlefanz (s.o.) gilt übrigens die Regel rechts vor links.
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